Mehrere Hände von Jugendlichen, die übereinander liegen

    Tristan sitzt seit 5 Minuten tief getroffen vor mir. Das schlechte Gewissen steht ihm nicht nur ins Gesicht geschrieben, es scheint auch noch 3x unterstrichen und mit Edding markiert worden zu sein. Dabei war dies eigentlich ein gewöhnlicher Verlaufstermin. Der einzige Unterschied: Heute haben wir Adrian noch mit dabei. Einer von Tristans engsten Freunden, den ich aber bisher nie zu Gesicht bekommen hatte. Adrian ist auch kein unbeschriebenes Blatt, fällt aber durch andere Delikte auf als Tristan. Aus einer lockeren Plauderei entstand ein Gespräch, das Tristan kurzerhand in eine Schockstarre versetzt hat. Der Grund mag für viele banal klingen, befasst man sich als Pädagoge aber ein wenig intensiver mit der Dynamik von Peergroups und der Entwicklungspsychologie der Adoleszenz, ist die Plauderei zwischen den beiden alles andere als unbedeutsam. 



    Als PFK bewerte ich den Austausch zwischen den beiden Jungs als zufriedenstellend, denn ich weiß genau: Sobald Adrian gleich weg ist, wird Tristan zum ersten Mal wieder seit Langem bereit sein, über sein Problemverhalten zu sprechen und dies zu reflektieren. Warum? Er möchte von Gleichaltrigen nicht negativ bewertet werden. 



    Der Grund für Tristans Reaktion: Adrian hat in einem Nebensatz erwähnt, dass er es extrem „ehrenlos“ fand, was am letzten Wochenende passiert ist. Adrian sagt dies ernsthaft, ohne eine Spur von Sarkasmus oder Humor. Dieses Feedback hat Tristan dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass er jetzt seit einigen Minuten überhaupt nichts mehr gesagt hat. 



    Selbstverständlich ist es auch Teil unserer Arbeit, unseren Teilnehmer*innen Feedbacks zu geben und ein angemessenes Normen und Wertesystem zu vermitteln. Egal, wie eng wir unsere Teilnehmenden begleiten, eine gewisse Distanz bleibt bestehen – und das ist auch gut so! Was Erwachsenen oftmals gewöhnlich vorkommt, kann einem/-r Jugendlichen aber sehr viel bedeuten. Es gewinnt noch deutlich mehr an Bedeutung, wenn dieses Feedback z.B. von jemandem kommt, der Teil seiner/ihrer selbst gewählten „Familie“, der Peergroup, ist. 



    Die Peergroup-Arbeit mit unseren Teilnehmenden kommt meistens von selbst zustande. In vielen Fällen ist es der beste Freund, der einfach zuhause bei dem Teilnehmenden sitzt, wenn die PFK zum Gespräch vorbeikommt. Die Neugier überwiegt dann doch dem teilweise aufgesetzten Desinteresse, sodass auch die Freunde schnell ins Gespräch mit einsteigen wollen. Nicht selten kommt es vor, dass auch Peers in dem geschützten Rahmen des „Kurve kriegen“-Termins über eigene Probleme und Konflikte sprechen. Für unsere Teilnehmer*innen ist dies eine Chance, ein Gespräch über tiefgreifendere Themen zu führen und die Erfahrung zu machen, dass dies von beiden Seiten akzeptiert wird und zukünftig zu einer wichtigen Ressource werden kann. Auch kommt es vor, dass Teilnehmende direkt anfragen, ob ein Freund oder eine Freundin die nächste Freizeitaktivität begleiten kann. Nach einer anfänglichen Skepsis stehen die Peers den Fachkräften freundlich und offen gegenüber, sodass Problemsituationen in kleiner Runde reflektiert und Handlungsalternativen erarbeitet werden können. Davon profitieren letztlich alle Beteiligten. Im Kreis Coesfeld wurde die Peergroup-Arbeit bisher als sehr gewinnbringend wahrgenommen. 



    Dass delinquente Peergroups ein großes Risiko für die Entwicklung dysfunktionale und delinquenter Verhaltensweisen darstellen, bleibt außer Frage und natürlich sollte in extremen Fällen eher unterstützt werden, derartige Kontakte zu reflektieren und gemeinsam zu überlegen, ob man hier von wirklicher Freundschaft sprechen kann. Dennoch soll diese Beispielsituation als ein kleiner „Reminder“ dienen, wie viel Potenzial in der Arbeit mit den Peergroups unserer Teilnehmer*innen steckt. Jede Fachkraft der Initiative „Kurve kriegen“ kann dieses Potenzial für die Arbeit und vor allem für die Weiterentwicklung der Teilnehmer*innen nutzen.