„Der Berg“ ist für den weltberühmten Psychiater und Philosophen Viktor Frankl (1905 - 1997), seines Zeichens passionierter Bergsteiger, ein „Lehrmeister des Lebens“ und dessen Besteigung hilft uns nach seiner Ansicht mit der „Trotzmacht des Geistes“ eigene Ängste zu überwinden und positive Veränderungen voranzutreiben. Zwei „Kurve kriegen“-Teilnehmer durften dies am eigenen Leibe erfahren und haben sich gemeinsam mit Joey Kelly, dem wohl berühmtesten Ausdauersportler Deutschlands, dessen Trainer Thomas Eickmann und ihren zwei pädagogischen Fachkräften (PFK) aufgemacht, gemeinsam die Zugspitze zu erklimmen. 

Von der Theorie zur Praxis

Joey Kelly im Profil

Am 25.05.2022 besuchte Joey Kelly die PFK in der Kreispolizeibehörde in Siegburg, um sich mit ihnen über den Nutzen von Sport in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auszutauschen (siehe Manchmal muss man einfach nur fragen).

Wenn man in der Schule und im Beruf Zielen nachgeht, braucht man genau wie im Sport Ausdauer, Mut, Leidenschaft und Passion. Eben alles, was ich brauche, um egal welches Ziel zu schaffen. Das ist qualitativ alles im Sport drinnen. Das ist ein optimales Tool in schwierigen Zeiten für einen jungen Menschen, der noch nicht weiß, wo er hinwill.“ (Joey Kelly, Interview mit „Kurve kriegen“ Rhein-Sieg-Kreis, 05/2022)

Nach dem Interview war Joey Kelly viel in der Welt unterwegs, doch die Idee etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, blieb immer in unseren Köpfen. Gemeinsam mit ihm und seinem Trainer Thomas Eickmann (LAZ Rhein-Sieg) kam es dann im März 2023 zu einem Treffen mit dem Fachkräfteteam des Rhein-Sieg-Kreises und Wolfgang Wendelmann (Ministerium des Innern NRW) vom Steuerungsteam „Kurve kriegen“. Es wurde viel hin und her überlegt, wie eine Zusammenarbeit aussehen könnte. Am Ende waren sich alle einig: „Kurve kriegen“ ist für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, also sollen diese auch im Mittelpunkt jedes Tuns stehen. So kam von Joey Kelly selbst die Idee:

Wir gehen auf die Zugspitze!



Der höchste Berg Deutschlands mit 2962 Metern – das erfordert Ausdauer, Disziplin, Mut und Selbstbewusstsein. Um in unseren Teilnehmern diese Fähigkeiten und Attribute zu erwecken und stärken, hat sich kein geringerer als Thomas Eickmann bereit erklärt, die sportliche und mentale Vorbereitung zu übernehmen. Denn die Zugspitze besteigt man nicht mal eben so.

Im Mai 2023 fand die Auftaktveranstaltung gemeinsam mit unseren Teilnehmern und deren Familien statt. Hierfür durften wir die Räumlichkeiten des Deutschen Alpenvereins der Sektion Rhein-Sieg in Troisdorf nutzen. Joey Kelly und Thomas Eickmann haben den Eltern und ihren Kindern das Vorhaben erklärt und alle Fragen beantwortet. Joey Kelly, der schon viele Male auf der Zugspitze war, hat die Route durch die Höllentalklamm und über den Höllentalklettersteig in seiner Erzählung bildlich gemacht und zum Leben erweckt.

Eine Woche später ging auch schon das Training los. Im Vereinsstadion des LAZ Rhein-Sieg in Siegburg trafen sich unsere Teilnehmer wöchentlich mit Thomas Eickmann und seinen Athleten zum Training. Unter ihnen auch Joey Kellys Sohn Luke, der den Trainingsverlauf unserer Teilnehmer verfolgt und positiv wahrgenommen hat (s. Video).

Trainiert wurden verschiedene Lauftechniken (Lauf ABC), Übungen zur Körperstabilität und Beweglichkeit, Treppenläufe und Geschicklichkeitsübungen. An warmen Tagen durften sich alle nach dem Training im Wassergraben abkühlen. Doch am wichtigsten war es, dass die Teilnehmer regelmäßig zum Training kamen. Auf der einen Seite war die Steigerung der sportlichen Leistung zielführend und notwendig, auf der anderen Seite sind das Durchhalten und das Weitermachen, um ein Ziel zu erreichen die tatsächliche Errungenschaft, die in Erinnerung bleibt. Das Ganze hat vor allem eins erfordert: Disziplin! Und diese Aufgabe haben unsere beiden Jungs über einen Zeitraum von knapp vier Monaten erfolgreich gemeistert.

Die Berge, die es zu versetzen gilt, sind in unserem Bewusstsein.

Reinhold Messner (*1944)

Südtiroler Extrembergsteiger und Erstbesteiger aller 14 Achttausender

Tag 1

Nach monatelanger Vorbereitung voller Training, Planung, Organisation und Beschaffung konnte es am 01.08.2023 endlich losgehen. Der Wandertrupp, bestehend aus unseren beiden Teilnehmern, Joey Kelly, Thomas Eickmann und den beiden PFK des Rhein-Sieg-Kreises Jörg Cadsky und Markus Rieger, traf sich um 07:00 Uhr am ICE-Gleis in Siegburg. Nach vier Stunden Zugfahrt und anschließenden eineinhalb Stunden Autofahrt war der Startpunkt der Wanderung erreicht: Garmisch-Patenkirchen auf 708 Metern über dem Meeresspiegel.

Dort gab es noch eine deftige Stärkung im Restaurant und anschließend wurde die Bergsteigerausrüstung durch den Bergführer Georg Gruber ausgehändigt und angepasst und in den Rucksäcken verstaut.

Und dann ging es los. Nach einem ausgedehnten Fußmarsch entlang des idyllischen, hellblauen Hammersbach (Grainau 758 m) durch einen verregneten Wald war das erste Etappenziel die Höllentaleingangshütte – der Beginn der Höllentalklamm. Hier rauscht der Hammersbach dann wild durch die Felsen. Die vielen, teils meterhohen Wasserfälle lassen sich von den Brücken, die über sie führen, hervorragend beobachten. Das Rauschen des Wassers ist an diesem Streckenabschnitt ein stetiger Begleiter – auch, wenn Teile des Weges durch lange Tunnel führen, die vor vielen Jahren in den Felsen geschlagen wurden.

Nach der Klamm ging es für diesen Tag schon Richtung Endspurt. Nach einer weiteren knappen Stunde wurde dann unser Tagesziel, die Höllentalangerhütte auf 1387 Metern, erreicht.

Die "Kurve kriegen" Wandergruppe vor der Höllentalangerhütte

An der Hütte richtete Joey Kelly das Wort an die Teilnehmer. Aus beruflichen Gründen konnte er nur bis hierher mitgehen, da er am nächsten Morgen schon wieder in Köln sein musste. Er sagte, dass er heute gesehen hat, dass beide es bis ganz oben schaffen können. Er war stolz und zuversichtlich, dass sie den kommenden Tag ebenfalls meistern werden. Zudem lud er die Teilnehmer und deren Familien im Herbst zu sich nach Hause zum Essen ein, um das Abenteuer nochmal Revue passieren zu lassen. 

Nach dem Abschied von Joey Kelly konnten alle die Füße ein wenig hochlegen und sich beim gemeinsamen Abendessen stärken. Später am Abend kam Georg Grubers Bergführerkollege Andreas Biberger dazu, um die Gruppe am nächsten Tag am Klettersteig mit unterstützen zu können.

Nicht der Berg ist es, den man bezwingt, sondern das eigene Ich.

Edmund Hillary (1919-2008)

Neuseeländischer Bergsteiger und Erstbesteiger des Mount Everest

Tag 2

Die "Kurve kriegen" Wandergruppe angeseilt am Berg

Um 04:45 Uhr klingelte am 02.08.2023 der Wecker. Nach dem Frühstück wurden die Rucksäcke gepackt und um 06:00 Uhr machten wir uns im Licht der aufgehenden Sonne auf den Weg Richtung Klettersteig.

Nach etwa 45 Minuten wurde es ernst. Die Bergführer halfen allen, die Kletterausrüstung korrekt anzulegen und es ging über das sogenannte „Brett“ erstmals senkrecht in die Höhe. Nach einigen spektakulären Kletterpassagen und steilen Aufstiegen durch das felsige Gelände wurde die erste Pause am sogenannten „Grünen Buckel“ gemacht. Hier konnte jeder nochmal seine Trinkflaschen mit frischem Bergwasser befüllen, bevor es dann weiter in Richtung Höllentalferner-Gletscher ging. Nach weiteren Kletterabschnitten und einem großen Geröllfeld kamen wir an der schneebedeckten Eisfläche an. Hier wurden die Steigeisen an den Schuhen angelegt und die Bergführer bildeten zwei Seilschaften, die jeweils den Aufstieg am Gletscher antraten. 

Kurz bevor beide Teams die Gletscherspalte am Ende der Eisfläche überqueren konnte, kam es zu einer aufregenden Situation. Ein Bergsteiger einer weiteren Gruppe rutschte auf dem höchsten Punkt der Gletscherkante ab und schlitterte etwa 100 Meter die Eisfläche hinab, bevor er kurz vor einer Gletscherspalte zum Liegen kam. Der Bergführer Andreas Biberger half dem Mann, der sich zum Glück nur die Schulter ausgekugelt hatte, und rief die Bergwacht, sodass unsere Teilnehmer noch eine Bergrettung mit dem Hubschrauber beobachten konnten. An dieser Stelle wurde allen Mitgliedern der Gruppe nochmal bewusst, wie wichtig jeder einzelne kleine Schritt auf dem Weg zum Ziel ist. 

Nach dieser bedrohlichen Situation und einer anstrengenden Kletterpassage machten wir eine weitere Pause. Nun waren es noch etwa 500 Höhenmeter, die es fast ausschließlich mit Sicherung am Stahlseil durch das steile Gelände zu bewältigen galt. Der letzte Teil der Tour war nach bereits etwa 1000 absolvierten Höhenmetern eine echte Herausforderung für Muskeln und Kondition. 

Die "Kurve kriegen" Wandergruppe am Gipfelkreuz auf der Zugspitze

Und nach circa acht Stunden, kurz nach 14:00 Uhr, war es so weit. Alle aus der Gruppe standen am goldenen Gipfelkreuz auf der Zugspitze!

Im Restaurant auf dem Berg konnte sich erstmal erholt und gestärkt werden, bevor es dann mit der atemberaubenden Zugspitz-Seilbahn wieder hinab zur Station Eibsee ging. Nach einer Ansprache der Bergführer und einem Mini-Kletterseil als Andenken für unsere Teilnehmer, haben sich dann alle auf den wohlverdienten Heimweg gemacht. „Heute war ich schon zweimal über den Wolken“, sagte ein Teilnehmer, während er strahlend den Sonnenuntergang aus dem Flugzeugfenster fotografierte.

Am Ende hat der Berg uns viele Lektionen erteilt, die nun Teil der Erinnerung unserer Teilnehmer geworden sind. Sie haben bewiesen, dass sie mit der Metapher “Berg” sich den schwersten Aufgaben, Hindernissen und Ängsten stellen und sie überwinden können. Wir sind stolz auf euch!

Nun gilt es, dieses Erlebnis auch langfristig zu sichern. Es braucht gute Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Menschen, in deren Fußstapfen man treten darf. Den ein oder anderen Fehltritt zu tun, der notwendig und wichtig ist, solange man aus ihm lernt. Und irgendwann, wenn man sich sicher genug fühlt, anfängt, eigene Wege zu gehen und Fußstapfen für andere zu hinterlassen. 

 

Wir danken:

  • Thomas Eickmann und Joey Kelly für ihr ehrenamtlichen Engagement und den unermüdlichen Einsatz für unsere Teilnehmer.
  • Stephan Kappes für die Unterstützung bei der Organisation der gesamten Tour.
  • Gregor Gruber und Andreas Biberger, die uns sicher auf den Berg geführt haben.
  • „Update – Kinder- Jugend- Elternberatung“ des Caritasverbandes für die Stadt Bonn e.V. & Diakonischem Werk Bonn als Arbeitgeber für die Unterstützung der PFK.
  • Der Kreispolizeibehörde des Rhein-Sieg-Kreises für die organisatorische Unterstützung.
  • Dem Ministerium des Innern Nordrhein-Westfalen (Referat 424) für das Vertrauen und die Unterstützung.