Porträt von Reto Maag

Ein Kommentar von Reto Maag:

„Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland“. Dieses Sprichwort (und ursprüngliche Zitat aus der Bibel, das niemand geringerem als Jesus zugeschrieben wird) besagt, dass manchmal Leistungen oder Erfolge von jemandem im eigenen nahen Umfeld - ganz im Gegensatz zur Fremde - nicht richtig wahrgenommen oder geschätzt werden. So erscheint es mir bisweilen auch mit der kriminalpräventiven Initiative „Kurve kriegen“ aus Nordrhein-Westfalen zu sein. 

Das ist insofern erstaunlich, als dass Jugendkriminalität und Jugendgewalt Themen sind, welche die Gesellschaft - seit jeher - als Ganzes bewegen und die eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit generieren. Obwohl unstrittig ist, dass Jugendliche, allein schon aufgrund ihrer entwicklungspsychologischen Situation, häufiger Grenzen gesellschaftlicher Normen überschreiten und entsprechend straffällig werden, gibt es unter den Kindern und Jugendlichen eine kleine Gruppe, die für einen beträchtlichen Teil jugendkrimineller Straftaten verantwortlich ist und entsprechend Anlass zur Sorge gibt. Es geht um die straffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen, die nach näherer Betrachtung aufgrund ihrer unterschiedlichen Risikofaktoren eine hohe Kriminalitätsgefährdung aufweisen und die Gefahr eines eskalierenden Verlaufs besteht (Unkrig & Wendelmann, 2023).

Es sind sogenannte Intensivtäterkarrieren, die sich da anbahnen und die enorm hohe soziale Folgekosten generieren sowie eine Vielzahl von Opfern - und damit unendlich viel Leid - hervorbringen. Mit „Kurve kriegen“ fand man weder ein Allheilmittel noch das das Ei des Kolumbus in Bezug auf den Umgang mit Kinder- und Jugendkriminalität. Allerdings gelang es - ausgehend von den Erkenntnissen und entsprechenden Handlungsempfehlungen für eine effektive Präventionspolitik der faktionsübergreifenden Enquetekommission „PRÄVENTION“ des Landes NRW von 2010 - mit „Kurve kriegen“ ein wirksames Instrument im Bereich selektiver Prävention zu implementieren. Selektive Prävention bedeutet dabei in Abgrenzung zur universellen bzw. indizierten Prävention „die Unterdrückung drohender oder sich ereignender Abweichungen von normativen Verhaltenserwartungen durch vorbeugende oder bekämpfende Interventionen“ (Kunz, 2011, S. 283).

Dahingegen versucht universelle Prävention ganz grundsätzlich sozial erwünschtes Verhalten generell zu fördern. Metaphorisch könnte man sagen; universelle Prävention versucht die Kinder vom Brunnen fernzuhalten während die selektive Prävention ein Netz spannt, um die bereits hineinfallenden Kinder abzufangen. Die indizierte- oder auch tertiäre Prävention kommt erst dann ins Spiel, wenn die Kinder in den Brunnen gefallen sind und versucht wird, diese zunächst da rauszuholen und vor einem erneuten Fall zu bewahren. 

„Kurve kriegen“ - ein Ansatz der funktioniert und rentiert

„Kurve kriegen“ als selektivpräventiver Ansatz fundiert auf der Idee der Vernetzung von Jugendhilfe und Polizei. Handlungsleitend ist dabei die Annahme, dass eine frühe und sehr auffällige Delinquenz häufig der Startpunkt sein kann für eine schwere und dauerhafte kriminelle Karriere. Doch nicht so sehr die Straftaten an sich liegen dabei im Fokus, sondern die Kinder und Jugendlichen in ihrer sozialen Eingebundenheit und deren tatsächliche- und / oder potentielle Risikofaktoren, welche den deviant-kriminogenen Verhaltensweisen zugrunde liegen und Teil der Lebenswelt dieser jungen Menschen sind. Multiprofessionelle Teams aus Polizei und sozialer Arbeit - besetzt durch freie Träger der Jugendhilfe - arbeiten vor Ort zusammen und bleiben dabei disziplinär „trennscharf“ wo nötig und verzahnen sich wo sinnvoll und angebracht (Unkrig & Wendelmann, S. 891).

Diese professionsübergreifenden Teams vernetzen sich lokal mit Schulen, Institutionen der Justiz, den Jugendämtern und weiteren lokalen Akteuren. Die Arbeit der Jugendämter wird durch „Kurve kriegen“ in keiner Weise konkurriert, sondern im Gegenteil, durch einen spezifisch kriminalpräventiven Fokus komplementiert. Jede Maßnahme oder Intervention der Fachkräfte ist individuell auf den ganz persönlichen kriminalpräventiven Bedarf eines jeden Teilnehmenden zugeschnitten, wobei natürlich die professionelle Beziehung der pädagogischen Fachkräfte / Sozialarbeitenden zu den Kindern und Jugendlichen den Kern des Ganzen bilden.

Mittlerweile ist „Kurve kriegen“ wissenschaftlich auf Herz und Nieren geprüft worden. Dabei wurde sowohl die Wirkung, das Funktionieren der Steuerung und der Prozesse, wie auch die Wirtschaftlichkeit nachgewiesen. Letzteres zeigte sich eindrücklich im Rahmen der „Kosten-Nutzen-Analyse der kriminalpräventiven NRW-Initiative „Kurve kriegen““ durch die Prognos AG im Jahr 2016 (Prognos, 2016). Diese kam zum Schluss, dass jede durch „Kurve kriegen“ verhinderte kriminelle Karriere der Gesellschaft enorm hohe soziale (Folge-)Kosten spart und damit im Prinzip jeder eingesetzte Euro in Form einer „Präventionsrendite“ mehrfach zurückfließt. Selbst in der konservativsten Berechnungsweise entsteht dabei immer noch ein Verhältnis von mindestens 1 zu 3. Dieses wird jedoch im Rahmen des derzeitigen Wirkbetriebs bei Weitem überstiegen.

Seit dem Start im Jahr 2011 hat sich „Kurve kriegen“ stetig weiterentwickelt, wurde effektiver und effizienter sowie zeitgleich flexibler und dynamischer. Außerdem hat sich die Initiative etabliert und fest verankert. „Kurve kriegen“ ist angekommen und wird in Nordrhein-Westfalen weithin positiv assoziiert und in den Köpfen mit der Bekämpfung von Kinder- und Jugendkriminalität verknüpft. So zumindest die (eigene) Wahrnehmung.

Dieser breiten Anerkennung liegt viel Engagement zugrunde. Einerseits ist es der hervorragenden Arbeit der Fachkräfte in ganz Nordrhein-Westfalen zu verdanken, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz für diese kriminalitätsgefährdeten jungen Menschen Perspektiven schaffen, kriminelle Karrieren verhindern, potentielle Opfer schützen und mit größtmöglicher Hingabe Vernetzungsarbeit betreiben wodurch tragfähige, nachhaltige und wirksame Unterstützungsangebote bereitgestellt werden können. Daneben ist das Steuerungsteam der Initiative mit Sitz im Ministerium des Innern in Düsseldorf stets darum besorgt „Kurve kriegen“ mit neuen Ideen, Ansätzen und viel Kommunikation - nach innen wie nach außen - weiter voranzutreiben, dynamisch zu halten und als „Marke“ weiter zu entwickeln. 

Das internationale Scheinwerferlicht und der verblasste Glanz zuhause

Dies alles blieb auch Außenstehenden nicht verborgen. So ist die Polizei in Schweden, wo sich die Situation in Bezug auf Jugendkriminalität über die letzten Jahre in gewissen Brennpunkten in drastischer Weise zugespitzt hat, auf „Kurve kriegen“ aufmerksam geworden. Im Ergebnis gibt es dort nun seit September 2023 drei skandinavische „Ableger“ der Initiative unter dem Titel „Rätt Kurva“. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewertet „Kurve kriegen“ mittlerweile als „Best Practice“ im Bereich der Kriminalprävention im Feld der Kinder- und Jugendkriminalität. Diese Wertschätzung und internationale Anerkennung führte über die letzten Monate dazu, dass das Team von „Kurve kriegen“ sein „Rezept“ zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendkriminalität im Auftrag der OSZE bei der UNO in Wien, in Nordmazedonien, Moldawien und bis nach Zentralasien in die Welt hinaustragen durfte. Darüber hinaus gastierte im Juli 2023 eine Delegation aus dem Innenministerium von Kirgistan im Rahmen eines „Study Visit“ zu „Kurve kriegen“ in Düsseldorf. Aber auch aus dem näheren westlichen Europa gab es verschiedene weitere Anfragen und Interessensbekundungen, wie beispielsweise aus Dänemark oder Holland. 



Und, so frage ich mich als jemand, der von außen kam und zum Bestandteil dieser Initiative wurde, was ist mit Deutschland? Wäre es nicht naheliegend, dass auch die direkten Nachbarn „zuhause“ sich dafür interessieren, zumal der Bedarf, die Nöte wie auch die strukturelle Ausgestaltung der Gesellschaft der des Landes Nordrhein-Westfalen nicht ähnlicher sein könnten?  Nun, der Glanz des internationalen Renommees scheint schnell zu verblassen in den „eigenen vier Wänden“. Kein einziges Bundesland verfügt bisher über eine vergleichbare Herangehensweise um sich abzeichnende kriminelle Karrieren auf diese Weise, sprich durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit von Polizei und Sozialer Arbeit, zu verhindern. Zumindest nicht in einer solch überregionalen bzw. bundeslandweiten Organisation und mit entsprechender Wirk- und Strahlkraft. Auch gibt es derzeit kein konkret geäußertes Interesse anderer Bundesländer oder auch einzelner Kommunen, ähnlich strukturierte Angebote aufzustellen.

Auf den ersten Blick scheint das kaum nachvollziehbar, wurde doch, wie zuvor angesprochen, die Wirkung, die Effektivität wie auch die Wirtschaftlichkeit des Programms wissenschaftlich untermauert. Und auch das Grundprinzip, Polizei und Soziale Arbeit zu verknüpfen um die unbestreitbar vorhandene gemeinsame Zielgruppe kriminalpräventiv zu adressieren, ist im Prinzip bestechend simpel und fernab einer Raketenwissenschaft.  Die Frage, warum es „so etwas“ nicht auch in Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen oder Schleswig-Holstein gäbe, wird dabei durchaus nicht selten an das Team herangetragen, so beispielsweise im Rahmen von Veranstaltungen mit deutschlandweiter Ausstrahlung wie dem Deutschen Präventionstag, wo „Kurve kriegen“ immer wieder öffentlichkeitswirksam auf sich aufmerksam macht, mit Experten fachlich diskutiert und sich bei solchen Gelegenheiten über Bundeslandgrenzen hinaus vernetzt. 

Um die tatsächlichen Gründe dafür zu erörtern bräuchte es wohl eine tiefergehende Analyse. Es dürften dabei unterschiedliche Begebenheiten eine Rolle spielen. Sowohl parteipolitische Befindlichkeiten im Rahmen demokratischer Machtverhältnisse ebenso wie Unzulänglichkeiten, die einem stark föderalistischen System geschuldet sind. Aber auch Vorbehalte der Polizei gegenüber der Sozialen Arbeit oder umgekehrt (siehe dazu Artikel: Soziale Arbeit und Polizei) könnten hier nach wie vor mit hineinspielen.  Außerdem dürften selbstverständlich auch institutionelle- wie organisationale Gründe von Bedeutung sein. Politik, Öffentlichkeit, Verwaltungen, Rechtsysteme, Polizei, Soziale Wohlfahrt, Bildung usw. sind in komplexen Systemzusammenhängen miteinander verwoben und stark hierarchisch wie auch bürokratisch organisiert.

Das schafft zwar einerseits Sicherheiten, Erwartbarkeiten und Gerechtigkeit, führt jedoch andererseits auch zu einer gewissen Schwerfälligkeit und Trägheit im System.  Gewachsene Prozesse und das Interesse daran, Dinge „einfach so weiter laufen zu lassen wie sie sind“ stehen Veränderungen oft im Wege. Und auch wenn der Wille etwas Neues einzuführen vorhanden wäre, trifft dieser oft auf die Lasten, die alte- bzw. gewachsene Strukturen mit sich rumschleppen.

Behörden und öffentliche Verwaltungen stehen darüber hinaus - zumindest in der öffentlichen Meinung und vielleicht etwas stereotyp zugespitzt - ohnehin nicht im Verdacht extrem dynamisch, effizient oder schnell zu sein.

Aber bitte nicht missverstehen. Mit diesen Feststellungen soll in keiner Weise einer plumpen Kritik neoliberalen- / libertären Anstrichs am Staatswesen Vorschub geleistet werden. Im Gegenteil, ist doch gerade „Kurve kriegen“ ein Beispiel dafür, wie gut eine staatlich finanzierte Initiative funktionieren kann. Nicht zu vergessen an dieser Stelle sind selbstverständlich auch die „fehlenden Haushaltsmittel“, der wohl am häufigsten genannte Grund, weshalb dies oder jenes nicht umgesetzt werden kann. Dies scheint auf den ersten Blick und aufgrund klammer Kassen nachvollziehbar, verfängt jedoch bei näherer Betrachtung und unter Berücksichtigung der erwähnten „Kosten-Nutzen-Analyse“ durch die Prognos AG (2016) kaum mehr.

Weiter geht’s - mit Leidenschaft und Engagement

Grundsätzlich kann also konstatiert werden: Es ist schwierig, mit neuen Ideen in bestehende Verhältnisse und Systemzusammenhänge tatsächlich vorzudringen, auch wenn das Problem vorhanden und die Strukturen zur Umsetzung gegeben wären. Lieber sucht man, so mein Eindruck - und der schmerzt mit Blick auf diese tolle Initiative besonders - nach Gründen, warum es nicht funktionieren könnte.  Also (so stelle ich es mir vor): Haken dran und weg mit den Gedankenspielen - macht ja erst einmal mehr Arbeit. Bis…ja bis wieder mal etwas passiert. Interessanterweise erfährt „Kurve kriegen“ immer dann auch in Deutschland wieder (meistens kurzzeitig) große Beachtung, wenn Kinder- oder Jugendliche aufsehenerregende und damit einhergehend medienwirksame Straftaten begehen oder die polizeiliche Kriminalstatistik steigende Zahlen aufzeigt.

Einschlägige Presseberichterstattungen, die dann auf politischer Seite bisweilen in bekannte Forderungen nach mehr, schneller und härter münden, erhöhen dann den Druck im Kessel. Und immer dann scheint man sich wieder an „Kurve kriegen“ aus Nordrhein-Westfalen zu erinnern. Auch seitens Medienschaffender aus anderen Bundesländern taucht dann übrigens öfters mal die Frage auf, weshalb es das nicht auch bei ihnen gäbe. Tja, weshalb nicht, das frage ich mich tatsächlich auch immer wieder. Alles was es dazu bedarf, ist deutschlandweit vorhanden. Niemand müsste Neues erfinden, lediglich ein wenig umsortieren und das Ganze strukturiert angehen.

Mein Fazit: Müsste man das Verhältnis zwischen der Initiative „Kurve kriegen“ und dem restlichen Deutschland im Kontext der Prävention von Jugendkriminalität beschreiben, so wäre wohl „es ist kompliziert“ eine treffende Formulierung. Freilich ändert das nichts an der Leidenschaft und der Überzeugung, mit der sowohl das Steuerungsteam in Düsseldorf, wie auch die Fachkräfteteams über fast ganz Nordrhein-Westfalen verteilt, das Konzept, die Idee und die Umsetzung von „Kurve kriegen“ vertreten, nach außen kommunizieren und - um das soll es letztlich gehen - für viele Kinder- und Jugendliche mit denkbar schlechten Voraussetzungen, Perspektiven für gelingende Lebensvollzüge erarbeiten und positive Veränderungen bewirken. 

„Kurve kriegen“ muss nichts verkaufen, es geht also nicht um ökonomische Beweggründe. Und es ist auch nicht so, dass die Initiative als solche „alternativlos“ wäre. Aber im Endeffekt müsste es in einer Gesellschaft, die sich in der Problematisierung eines gewissen Gegenstands (hier: Kinder oder Jugendliche, die aufgrund unterschiedlicher Faktoren eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen persistent-kriminelle Karrieren einzuschlagen) soweit einig ist, doch darum gehen, gemeinsam Lösungen zu suchen und voneinander zu lernen und zu profitieren. In einer idealen Welt geschähe das losgelöst von persönlichen Befindlichkeiten, Parteibüchern oder bürokratischen Schwerfälligkeiten.  Entsprechend wird „Kurve kriegen“ weiterhin Qualität abliefern, öffentlich präsent sein und mit Engagement für die Sache einstehen. Ganz im Sinne des Propheten, der zum Berg gehen muss, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt- und mit Bergen kenne ich mich als Schweizer aus.

Unterm Strich also ein dickes Kompliment an meine deutschen Kolleginnen und Kollegen. Ihr habt da ein echt tolles Ding auf die Gleise gesetzt wofür es sich lohnt, hartnäckig am Ball zu bleiben. Vielleicht wächst dann auch in anderen Bundesländern irgendwann die Erkenntnis, dass es so einfach sein könnte.

 

Quellen

Unkrig J. & Wendelmann W., (2023). Jugendkriminalität nachhaltig bekämpfen, negative Entwicklungen frühzeitig stoppen. In: Wehe, D. & Siller, H. (Hg.): Handbuch Polizeimangement. Polizeipolitik - Polizeiwissenschaft - Polizeipraxis. 2. Auflage. Wiesbaden. S. 883 - 898.

Prognos (2016). Kosten-Nutzen-Analyse der kriminalpräventiven NRW-Initiative „Kurve kriegen“. Managementsummary. Düsseldorf / Berlin. 

Landtag Nordrhein-Westfalen. (2010). Bericht der Enquetekommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine effektive Präventionspolitik in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf.