Da mache ich auf gar keinen Fall mit, auf sowas habe ich gar keinen Bock.
Vera
14 Jahre
Mit verschränkten Armen stand Vera (Name geändert) bei unserem ersten Treffen im Türrahmen. Zu diesem Zeitpunkt war Vera 14 Jahre alt, befand sich mitten in der Pubertät, hatte ständig Streitigkeiten zu Hause, war schulabsent und hatte Freunde, die sie im Drogenrausch auffingen.
Wöchentliche Gespräche im häuslichen Umfeld oder bei Spaziergängen waren der Anfang unserer gemeinsamen „Reise“: Ein langsames Herantasten, um eine professionelle Beziehungsbasis aufzubauen. Die Mauer, die Vera aufgebaut hatte, war enorm dick. In ihren jungen Jahren hat sie das System Jugendamt, Jugendhilfe und deren Unterstützungsangebote bereits kennengelernt und für sich entschieden, niemanden mehr zu vertrauen.
Genau diese Herausforderung macht meine Arbeit als pädagogische Fachkraft in der Initiative „Kurve kriegen“ aus. Das niederschwellige Angebot wird individuell auf die Jugendlichen abgestimmt und unterstützt sie in ihren jeweiligen Lebenswelten in ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Alle Systeme werden genau beleuchtet.
Vera war mehrfach wegen Diebstahls- und Körperverletzungsdelikten in Erscheinung getreten. Aus diesem Grund wurde sie in die Initiative aufgenommen.
Sie war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Schule. Die Gesamtschule hatte bereits ein AO-SF-Verfahren mit Zustimmung der Mutter eingeleitet, um einen Wechsel zu einer Förderschule zu vollziehen.
Im häuslichen Umfeld gab es immer wieder Streitigkeiten. Die Mutter ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Der Stiefvater wollte seinen Erziehungsstil durchsetzen: Regeln und Grenzen sollten eingehalten werden. Drogen und Alkohol gehörten zum Alltag. Vera war immer wieder tage- und wochenlang abgängig.
Alle Themen wurden gemeinsam bearbeitet, in Veras Tempo. Im Mittelpunkt stand dabei der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, durch langsames Öffnen und sich einlassen auf das Angebot. Als Pädagogin galt es nun „Das Problem hinter dem Problem!“ zu erkennen.
„Der Weg ist das Ziel“
Der Wechsel von der Gesamtschule zur Förderschule stand im Sommer an und war nicht mehr aufzuhalten. Vera konnte sich nur schwer damit anfreunden - um es mit ihren Worten auszudrücken - „auf die Behindertenschule zu gehen.“
Parallel wurde weiter zum Thema „Straffälligkeit“ gearbeitet. Neben Vernehmungen bei der Polizei fand eine grundlegende Aufklärung über Straftaten, die Arbeit der Staatsanwaltschaft und dem Ablauf von Gerichtsverhandlungen statt. Immer wieder wurden die Konsequenzen und Auflagen thematisiert, die als Folge von straffälligem Verhalten drohten, z. B. ein Arrest.
Die Jugendarrestanstalt (JAA) für Mädchen befindet sich in Wetter an der Ruhr.
Gemeinsame Überlegungen mit der Anstaltsleitung der JAA führten zur Planung eines Besuchs vor Ort mit ausgewählten Teilnehmerinnen auf der Grundlage eines gut ausgearbeiteten Konzeptes mit Vor- und Nachbereitung für die Mädchen.
Der Besuch in der JAA Wetter/Ruhr
Vera war eines von drei ausgewählten Mädchen, welche die Möglichkeit erhielten, die Jugendarrestanstalt zu besuchen.
Der Besuch wurde über mehrere Treffen im Einzelkontext vorbereitet. Alle Mädchen waren über 14 Jahre alt und bereits mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten; erste Erfahrungen mit dem Gericht und drohenden Konsequenzen waren vorhanden. Darüber hinaus waren alle seit geraumer Zeit Teilnehmerinnen der Initiative „Kurve kriegen“ (mit bereits vorhandener Vertrauensbasis).
Die Anstaltsleitung begrüßte die Mädchen, die JAA konnte besichtigt werden und der Tagesablauf wurde erklärt. Im Anschluss erfolgte ein Austausch von Insassen und unseren Teilnehmerinnen. Die Arrestanten waren für dieses Gespräch speziell ausgewählt worden, da nicht jeder offen über seine Geschichte sprechen mochte. Die „Kurve kriegen“-Teilnehmerinnen hatten dabei Gelegenheit, vorbereitete Fragen ins Gespräch einzubringen. Die Arrestanten haben alle Fragen beantwortet und darüber hinaus über ihre persönlichen Geschichten sehr anschaulich und ergreifend berichtet.
Vera zeigte sich sehr interessiert und stellte viele Fragen. Sie konnte nicht glauben, dass man hier „nur“ wegen Diebstahl und Körperverletzung einsaß.
Körperverletzung, Schule schwänzen und Diebstahl – das sind die gleichen Sachen, die ich auch gemacht habe, ... dann muss ich bestimmt auch bald hier hin ... neee, mir wird das nicht passieren, ich werde mich jetzt ändern und bin froh, in der Initiative "Kurve kriegen" zu sein.
Vera
14 Jahre
Wir verließen den JAA mit offensichtlich aufgewühlten Teilnehmerinnen. Und natürlich müssen solche Erlebnisse intensiv begleitet und nachbearbeitet werden.
Ein Wechselbad der Gefühle
Bei Vera brauchte es mehrere Gespräche, um das Erlebte zu verarbeiten.
Wegen der von ihr vor der Aufnahme in die Initiative begangenen Straftaten wurde Vera kurze Zeit später zu einer Woche Jugendarrest verurteilt. Unter Tränen nahm sie ihr Urteil zur Kenntnis.
Beim Abholen zum Arrestantritt sah Vera ihre Mutter weinen. Diese hatte einen Bandscheibenvorfall und sollte operiert werden. Vera hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Die Mutter so traurig zu sehen, war für sie kaum zu ertragen.
Auf der Fahrt zur JAA stellte sie dann noch viele Fragen zum Alltag in der JAA und zeigte sich sehr deprimiert:
Ich schaffe es nicht, ich habe Angst…. meine Freiheit ist weg ... jetzt ist es so weit, ich bin selbst schuld, hätte ich besser gehört...
Vera
14 Jahre
Erst nach der Rückversicherung, dass ich sie auch wieder abholen würde, nahm sie den Weg in die JAA auf.
Der Entlass-Tag
Am Entlasstag weinte Vera vor Freude: „Ich kann es nicht glauben, ich habe es geschafft.“
Sie überschlug sich beim Reden, fand nur schwer Worte: „Ich bin draußen, ich glaub' es nicht“. Weinend rief sie ihre Mutter an und entschuldigte sich immer wieder: „Mama, es tut mir leid, dass ich immer wieder Mist gebaut habe und nicht nach Hause gekommen bin. Ich werde in die Schule gehen.“
Während der Fahrt erzählte sie, wie es ihr in der JAA ergangen war. Sie habe viele Briefe geschrieben und habe verstanden, dass ihr Freiheit das Allerwichtigste sei. Noch einmal wollte sie auf keinen Fall in eine JAA; ab sofort wollte sie die Schule besuchen, keine Straftaten mehr begehen und in der Initiative mitarbeiten.
Nach diesem einschneidenden Erlebnis änderte sich unsere Zusammenarbeit grundlegend. Vera wurde viel offener und berichtete auch von einer negativen Erfahrung im Zusammenhang mit dem Wechsel einer Pädagogin, welche dann dazu führte, dass sie mit niemandem mehr reden wollte.
Im Rahmen der Gespräche konnte ich Einblick in die Familie nehmen. Vera berichtete, dass ihr leiblicher Vater gestorben sei, als sie noch ein Kind war. Dies wurde in der Familie offensichtlich nie thematisiert. Den neuen Mann der Mutter akzeptierte Vera nicht, u. a. aufgrund häuslicher Gewalt, was auch zu wiederholtem Weglaufen von zuhause und Übernachten bei Freunden führte. Sie gab an Drogen zu konsumieren um den Alltag „zu vergessen“. „Im Rausch der Gefühle kann man es ertragen. Meine Freunde sind für mich da.“
Sukzessive begannen wir die Tagestruktur aufzubrechen. Sie ging wieder regelmäßig zur Schule. Während der Woche fuhr sie nicht mehr zu ihren Freunden, erst am Wochenende. Eine Freizeitbeschäftigung, die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs und regelmäßige lange Gespräche mit der Mutter und der Familie banden sie wieder an das häusliche Umfeld. Die erlernte Rücksichtnahme, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz führte zur Reduzierung der Streitigkeiten.
Ein Jahr straffrei
Vera schafft es wieder regelmäßig zur Schule zu gehen und hat auch wieder Anschluss in der Klasse gefunden. Aller Voraussicht nach wird sie im Sommer ihren Abschluss schaffen und danach eine Maßnahme absolvieren. Den Kontakt zu ihrem alten Freundeskreis hat sie abgebrochen. Die Familiensituation hat sich verbessert.
Vera ist seit einem Jahr nicht mehr kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten.